Kardinal Kasper
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Neue Evangelisierung

Kardinal Walter Kasper 

I. Kirche wohin gehst du?
 

„Kirche, wohin gehst du?“ So fragen gegenwärtig viele. Fast alles ist in raschem Umbruch.  Schon vor 40 Jahren stellte das II. Vatikanische Konzil fest: „Heute steht die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte, in der tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen.“ (GS 6). Der Wandel hat sich in der Zwischenzeit beschleunigt. Doch im Unterschied zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bewirkt der Wandel heute nicht mehr utopische Erwartungen, sondern eher Verunsicherung und Zukunftsängste. Es fehlt an Zukunftsperspektiven

Es führt kein Weg an der Feststellung vorbei: Europa ist Missionsland geworden. Weitsichtige Bischöfe und Theologen hatten das schon vor und während des II. Weltkrieg erkannt und von Deutschland als Missionsland gesprochen. So etwa Alfred Delp und Dietrich Bonhoeffer – zwei Blutzeugen des Glaubens. In Frankreich sprach man von „France pays de mission“. Der  prophetischen Hirtenbrief  des Kardinal E. C. Suhard „Essor ou déclin de l’Église“ (1947) weckte die Geister auf und bereitete das II. Vatikanische Konzils vor.

In einer solchen Krisen- und Umbruchssituation ist vor allem eine Vision nötig. Jeder einzelne, jede Gemeinschaft und jedes Volk sind nur dann überlebensfähig, wenn sie von einer Vision beseelt sind und einen Traum in sich tragen. Dies gilt auch von der Kirche.

Die Kirche braucht ihre Vision nicht neu erfinden; sie ist ihr im Evangelium Jesu vom Kommen des Reiches Gottes vorgegeben (Mk 1,14 f). Die Hoffnung gehört sozusagen zur Gründungsgeschichte der Kirche; sie ist ihr ins Herz geschrieben. Woran es mangelt ist, daß es gegenwärtig kaum gelingt, diese Hoffnung in eine konkrete Vision und in eine konkrete pastorale Perspektive zu übersetzen. Dabei ist uns das Leitwort  für eine heutige und morgige Pastoral von den letzten Päpsten klar vorgegeben; es lautet: Neue Evangelisierung. Das heißt nichts anderes als neu die Frohe und befreiende Botschaft Jesu zu verkünden.  Dieses Programm wird von den einen, besonders von neueren Bewegungen begeistert aufgegriffen, von anderen  wird es misstrauisch beäugt und als reaktionär abgestempelt. Sie befürchten die neue Evangelisierung könne sich als neue Indoktrination entpuppen. Fragen wir darum: Was ist mit neuer Evangelisierung gemeint?

II. Evangelisierung und Neuevangelisierung

Evangelium und evangelisieren sind Grundworte der Bibel. Sie finden sich schon bei den alttestamentlichen Propheten; sie sind bei Jesus wie bei Paulus zentral. Jesus definiert seine eigene Sendung kurz und bündig als evangelizare pauperibus („den Armen die Frohe Botschaft verkünden“) (Lk 4,18). Markus fasst Jesu ganze Botschaft in dem Satz zusammen: „Er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,14 f). Paulus bezeichnet sich als „Apostel auserwählt das Evangelium zu verkünden“ (Röm 1,1; vgl. 1 Kor 1,17).

Das Evangelium ist kein Buch; es ist ein lebendiges und wirksames Wort, welches das, was es sagt auch bewirkt. So wird im Evangelium Gottes Herrschaft innerweltlich offenbar und geschichtlich wirksam gegenwärtig. Das Evangelium ist eine Botschaft vom Leben, von der Gerechtigkeit, von der Freiheit und vom Frieden Gottes. Evangelisierung ist eine die Gegenwart um- und neu gestaltende, dynamisch in die Zukunft drängende Kraft, durch die sich mitten in Bedrängnissen und unter Verfolgungen in der Welt Gottes Reich Bahn bricht und mit ihr Leben, Gerechtigkeit,  Freiheit und Frieden (schalom).

Das Evangelium ist kein System von Glaubenssätzen und moralischen Geboten, schon gar kein politisches, auch nicht ein kirchenpolitisches Programm sondern eine Person: Jesus Christus als Gottes endgültiges, menschgewordenes Wort. Das Evangelium ist Evangelium Jesu Christi. Es hat Jesus Christus nicht nur zum Inhalt; Jesus Christus ist durch den Hl. Geist auch der Promotor und das primäre Subjekt der Evangelisierung. Das Ziel ist Gemeinschaft und Freundschaft mit Jesus Christus, Begeisterung und Einsatz für ihn und seine Sache, das Reich Gottes.

Genau das war das „Programm“, das Papst Johannes Paul II. in dem Dokument, das ich als sein eigentliches pastorales Testament betrachte, in „Novo millennio ineunte“  („Zu Beginn des neuen Jahrtausends“ (2001) ausgegeben hat. Er sagte: Wir müssen „neu von Jesus Christus her anfangen“. Das ist auch das Anliegen, das dem Buch des gegenwärtigen Papstes „Jesus von Nazareth“ zu Grunde liegt.

Schon bald ist aus dem Evangelium ein Buch geworden; damit ging – von einigen großen Ausnahmen abgesehen – der ursprüngliche lebendige und Leben weckend Sinn von Evangelium verloren. Erst in den protestantischen Erweckungsbewegungen ist der ursprüngliche Sinn von Evangelisierung bzw. Evangelisation wieder lebendig geworden. Den Erweckungsbewegungen ging es darum, „tote“ Christen wieder zu erwecken, also um das, was wir heute mit Neuevangelisierung bezeichnen. Auf katholischer Seite entsprachen dem die in regelmäßigem Abstand in jeder Pfarrei durchgeführten Volksmissionen. Leider hat man diese Praxis weitgehend aufgegeben; heute ist sie wieder im Kommen. Sie wurde jüngst in großem Maßstab in Stadtmissionen in Lissabon, Paris, Wien und in anderen Großstädten  durchgeführt. Ich hoffe, diese Beispiele machen Schule.

Auf katholischer Seite finden sich die Begriffe „evangelisieren“ und „Evangelisation“ offiziell wieder in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils (1962-65). Die Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ macht  deutlich, daß Evangelisierung nicht Indoktrination bedeutet,  sondern geisterfülltes Zeugnis durch Wort und Tat wie durch das ganze Leben der Kirche (DV 7 f). Sie ist in besonderer Weise den Bischöfen aufgetragen (LG 24 f), die Laien sollen die konkrete Lebenswelt mit dem Geist des Evangeliums durchdringen (LG 35; AA 2). In diesem umfassenden Sinn kann das Konzil sagen: „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch“ (AG 2).

Diesen Satz kann man gar nicht oft genug wiederholen. Denn Mission bedeutet Aufbruch, Grenzüberschreitung und Horizonterweiterung. Mission ist damit das Gegenteil von Selbstgenügsamkeit und Selbstbeschäftigung, von Status-quo-Denken und von einer pastoralen Einstellung, die meint es genüge den gewohnten pastoralen Betrieb aufrecht zu erhalten. Doch business as usual genügt heute nicht mehr.

Wirklich zum Durchbruch kam dieses erneuerte Verständnis von Evangelisierung in dem Apostolischen Schreiben von Papst Paul VI. „Evangelii nuntiandi“ „Über die Evangelisierung in der Welt von heute“ (1975). Dieses zukunftsweisende Schreiben geht so weit zu sagen „Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren“ (EN 14). Das war ein Startschuss und brachte eine Lawine ins Rollen. Rasch wurde das Stichwort Evangelisierung in Lateinamerika, Afrika und auf den Philippinen aufgegriffen. Er hat Eingang gefunden in das Abschlussdokument der Lateinamerikanischen Bischofs-versammlung in Puebla „Die Evangelisierung Lateinamerikas in Gegenwart und Zukunft“ (1979), und es findet sich wieder in dem jüngsten Dokument von Aparecida (2007). Seit Puebla ist Evangelisierung mit der vorrangigen Option für die Armen und für die Jugend verbunden. In Deutschland dagegen – man muß es leider sagen – haben wir „Evangelii nuntiandi“ lange Zeit verschlafen.

Papst Johannes Paul II. hat das Thema zum festen Bestandteil vieler seiner Botschaften gemacht. Am ausführlichsten tat er das mit Hilfe des Begriffs „Mission“ in der Missionsenzyklika „Redemptoris missio“ „Über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen Auftrages“ (1990). Die Enzyklika legt Wert darauf, daß die Mission heute alles andere denn als erledigt betrachtet werden kann. Sie befindet sich an einem neuen Anfang. Denn sie bezieht sich heute nicht mehr nur auf bestimmte geographische Bereiche sondern auch auf neue soziale Welten, auf Milieus, Bereiche der Kultur, besonders auf die Massenmedien, die sich vom Christentum entfremdet haben.

Der Papst unterscheidet darum drei Situationen: 1. die Erstmission (missio ad gentes) dort, wo das Evangelium noch nicht bekannt ist; 2. die  normale Seelsorgetätigkeit dort wo die Kirche in Gemeinden lebt und solide Strukturen besitzt; 3.  die neue Evangelisierung in Ländern alter christlicher Tradition, in denen ganze Gruppen von Getauften den lebendigen Glaubens verloren haben, sich nicht mehr als Glieder der Kirche verstehen und sich von Christus und vom Evangelium entfernt haben (RM 33).

Unter dem Leitwort Evangelisierung geht es also und die grundlegende Sendung der Kirche, um die Identität und ihre Raison d’ être. Evangelisierung ist darum kein Sonderkonzept für bestimmte geographisch abgrenzbare Regionen; sie ist der Weg, das apostolische Erbe für das Heute aufzuschließen und es im Heute wirklich werden lassen. Mit dem „Programm“ der neuen Evangelisierung will die Kirche ihre ureigenste „Sache“ die Botschaft vom Reich Gottes, das in Jesus Christus angebrochen ist, in die Welt von heute und in die heutigen Auseinandersetzung einbringen.

III. Neue Evangelisierung als Antwort auf eine neue Situation

Wenn wir heute nicht bloß von Evangelisierung sondern von „Neuer Evangelisierung“ sprechen, dann dieser neue Begriff den Sinn darauf hinzuweisen, daß Evangelisierung heute in einer neuen Situation zu geschehen hat. In manchen Teilen Afrikas und besonders in Asien geht es um Erstevangelisierung, also darum, dem Evangelium in den dortigen Kulturen erstmals Gehör und Raum zu verschaffen. Anders bei uns in Europa. Wir haben eine reiche, viele Jahrhunderte zurückreichende christliche Geschichte hinter uns. Europa ist gar nicht denkbar ohne das evangelisierende Wirken des Apostels Paulus, ohne das Martyrium des Petrus und Paulus in Rom, ohne große Päpste wie Leo und Gregor, ohne  Männer und Frauen wie Martinus, Benedikt und Scholastika, Methodius und Kyrill, Bonifatius und Walburga, Ulrich, Adalbert, Ansgar, Brigitta von Schweden, Elisabeth von Ungarn und Thüringen, nicht ohne Martin Luther und die Reformatoren und viele andere. Ohne sie wäre das Haus Europa nie gebaut worden.

Aber Europas Geschichte ist nicht nur eine Heiligengeschichte sondern auch eine Schuldgeschichte. Europa hat sein Erbe oft verraten: in den Kreuzzügen, in den Religions-kriegen, in denen sich Lutheraner und Katholiken befehdet und Europa an den Rand des Ruins gebracht haben, in der Kolonisationsgeschichte, die auch eine Ausbeutungs-geschichte war, in den beiden Weltkriegen, welche die ganze Welt ins Unglück stürzten, in den beiden Gott und die Menschen verachtenden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, dem Nazismus und dem sowjetischen Kommunismus, schließlich in der Shoah, der staatlich geplanten und ins Werk gesetzten Ermordung von 6 Millionen Juden mitten in Europa.

Die Säkularisierung ist eine Reaktion auf diese Schuldgeschichte, sie ist eine Reaktion besonders auf die Religionskriege. Nachdem Europa in den Glaubensstreitigkeiten an den Rand des Ruins geraten war, mußte man um des Überlebens willen die Religion aus dem öffentlichen Bereich verbannen und zur Privatsache erklären. Man hat den öffentlichen Frieden unter Absehung vom Glauben auf die allen gemeinsame Vernunft gegründet. Das bedeutete einen Relevanzverlust der Kirche; weite Bereiche der Kultur und der Wissenschaft und viele Milieus wurden dem christlichen Glauben entfremdet.

Man muß sich freilich vor vereinfachenden Schlagworten hüten. Es ist zu einfach, nur von  Entkirchlichung, Entchristlichung, Religionsverfall und Gottlosigkeit zu sprechen. Säkularisierung meint einen Differenzierungsprozess, in dem  sich die genannten weltlichen Bereiche von der früher alles umfassenden und alles normierenden Vorherrschaft der Religion emanzipiert haben und ihre Autonomie gewonnen haben. Das II. Vatikanum hat die legitime Autonomie anerkannt (GS 36; 41; 56; 76).  Die  „Erklärung über die Religionsfreiheit“ sagte sogar anerkennend, daß den Menschen unserer Zeit, die Würde  der menschlichen Person immer mehr zum Bewusstsein kommt (DH 1).

Wir Christen sind keine grundsätzlichen Kulturpessimisten. Wir haben keinen Grund, die moderne Entwicklung einseitig negativ zu beurteilen Die Kirche hat zwar an äußerer Macht und an direktem Einfluss verloren, dafür aber ihre  äußere und innere Freiheit zurückerhalten und an moralischer Autorität gewonnen. Wie die Kirche alles Wahre, Gute und Schöne in den anderen Religionen bejaht, so kann sie auch das Gute der neuzeitlichen Entwicklung anerkennen.

Wir dürfen freilich nicht ins gegenteilige Extrem verfallen und die Moderne sozusagen heilig sprechen. Im Prozess der Säkularisierung haben sich die Früchte der Neuzeit von ihren christlichen Wurzeln und vom christlichen Stamm gelöst; als vom Baum gefallene Früchte sind sie in der Gefahr faul und giftig zu werden. Dies ist tatsächlich geschehen. Die individuelle Freiheit ist zum Individualismus geworden, für den es keine allgemein verbindlichen Werte und Normen mehr gibt. Die Säkularisierung ist oft in die Ideologie eines oft intoleranten  Säkularismus umgeschlagen. Es gibt heute wieder neu einen harten, missionarisch auftretenden kirchenfeindlichem Atheismus und  Laizismus, der sich auch politisch artikuliert, etwa in der kategorischen Ablehnung der Nennung des Gottesbezugs und der jüdisch-christlichen Wurzeln Europas in dem ursprünglich geplanten europäischen Verfassungsvertrag.

Inzwischen hat man die  „Dialektik der Aufklärung“ (Th. W. Adorno) erkannt; der Preis, den wir für den Fortschritt zahlen müssen, ist offenkundig  geworden Das Drama des Humanismus ohne Gott (H. de Lubac) ist, daß er mit dem christlichen Glauben auch die positiven Ideale der Aufklärung in Frage stellt: So steht die Moderne in der Gefahr ihrer Selbstzerstörung. Die autonome Vernunft steht in der Gefahr zur rein instrumentellen Vernunft zu werden, die dem guten Gebrauch wie dem Missbrauch dienstbar gemacht werden kann. Mit Hilfe der modernen Technik kann man hochmoderne, bestens ausgestattete Krankenhäuser wie Atombomben bauen. Man kann die Natur kultivieren oder sie ausbeuten und so die natürliche Lebenswelt zerstören. Die Vernunft kann zur Hure Vernunft  (Martin Luther) werden. 

Letztlich wird die Welt durch die radikale Emanzipation ihres letzten Sinnes beraubt. Es fehlt ihr das verbindende Band.  Genau so hat  F. Nietzsche die Folgen des Todes Gottes beschrieben: „Was taten wir als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? …Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“

Mit einer solchen sinnentleerten Welt mag sich der Mensch nicht abfinden. So kam es zu  einer Dialektik der Säkularisierung. Die Erwartung die Religion werde absterben, hat sich nicht bewahrheitet. Nicht die Religion sondern die Säkularisierungsthese hat sich als Aberglaube erwiesen. Die Frage nach Sinn und Orientierung, die ausdrückliche oder auch unausdrückliche Sehnsucht und Frage nach Gott ist bei vielen Menschen wieder neu aktuell geworden. Auch nicht Denker, die aus keiner religiösen Tradition kommen wie J. Habermas entdecken, daß die Religion ein Potenzial von Sprach- und Deutungsmustern bereithält um Erfahrungen zu benennen und zu deuten, die sonst sprachlos bleiben und fassungslos machen. So spricht man von einer Wiederkehr der Religion, ja von einer Wiederkehr Gottes. Gott ist  sozusagen wieder salonfähig geworden.

Doch es ist Vorsicht geboten. Die Wiederkehr der Religion ist ein ambivalenter Vorgang. Sie führt keineswegs ohne weiteres zum christlichen Gottesglauben zurück, und sie füllt nicht automatisch die leerer gewordenen Kirchenbänke. Oft führt sie zu einer vagen, diffusen, frei flottierenden Religiosität, zu einer individualistischen Beliebigkeits- und einer synkretistischen Bastelreligiosität. Diese teilweise chaotische Religiosität wendet sich teilweise dem Mythos, dem Spiritismus und dem Okkultismus bis hin zum Satanismus  zu; teilweise läuft sie auf einen „religionsförmigen Atheismus“ hinaus (J. B. Metz). So kann man fragen: Ist es wirklich Gott, der zurückkommt, oder handelt es sich nicht eher um die Wiederkehr der Götter bzw. Götzen? Geht es vielleicht nur um eine narzistische Selbstverliebtheit, die das  Göttliche in uns aber nicht Gott über uns sucht? Schon Nietzsche hat von einer Götterdämmerung gesprochen.

Religiöse Gefühle können sich an die unterschiedlichsten Bereiche anhängen und zur Vergötzung innerweltlicher Werte wie Staat, Kunst, Sport u.a. führen. Das kann bis zum religiös bemäntelten Terrorismus gehen, und eine schlimmere Verkehrung der Religion als deren Instrumentalisierung zum Terror kann man sich kaum denken. Auf der anderen Seite gibt es die Versuchung zu einer konservativen bzw. neokonservativen Zivilreligion, welche das Bestehende sanktioniert oder gar dessen aggressive Durchsetzung und kriegerische Ausweitung rechtfertigt.

So haben wir es einerseits mit einer weiterhin säkularisierten, technisch hochentwickelten Welt zu tun, die weithin an Profit sowie an persönlichen, wirtschaftlichen und politischen und Interessen ausgerichtet ist, andererseits mit einer eher freizeit- und hobbymäßigen, emotional geprägten, diffusen Religiosität. Der Pathologie der Vernunft entspricht eine pathologische Religiosität. Es ist zu einem Schisma von Gott und Welt, von Glauben und Denken gekommen, das aufzulösen im Interesse der Religion wie der Welt eine grundlegende Herausforderung darstellt.

Die Neuevangelisierung sieht sich also einer komplexen und unübersichtlichen Situation konfrontiert. Angesichts dieser schwierigen Situation kann sie kein kurzfristiges Programm sein, das man  mit ein paar gezielten Aktionen oder mit Hilfe einiger sattsam bekannten Reformvorstellungen erledigt wie Demokratisierung der Kirche, Änderung der Disziplin des Zölibats u.a.. Das ist zu punktuell gedacht. Es geht um eine langfristige grundlegende Aufgabe. Es geht um die Gottesfrage und um die Grundaufgabe der Mission: Ruf zur Bekehrung von den Götzen zu dem einen und wahren Gott (1 Thess 1,9).

Schon die Kirchenväter wussten, daß die  zweite Bekehrung schwerer ist als die erste. Die erste Bekehrung geschieht – so sagten sie – durch das Wasser der Taufe, die zweite durch die Tränen der Reue und der Buße. Das gilt auch von der neuen, d.h. zweiten Evangelisierung. Sie muß die Verkrustungen, Verhärtungen und Verstockungen erst wieder mühsam auflösen und die Wunden heilen, welche auf Seiten der Kirche wie der modernen Welt entstanden sind. Auf Seiten der Kirche gilt es eine einseitig defensive Haltung gegenüber der Welt zu überwinden, sich aus der teilweise selbst verschuldeten Isolierung zu befreien, den Glauben und die Glaubensfreude zu erneuern und den missionarischen Schwung zurückzugewinnen. Auf Seiten der modernen Welt geht es darum, wieder zu entgiften was sich an Vorbehalten, Vorurteilen und Feindseligkeit gegenüber dem Christentum aufgebaut hat. Während die erste Missionierung die religiöse Dimension voraussetzen und an ihr anknüpfen konnte, muß die zweite die oft verschütteten religiösen Fragen erst wieder mühsam freilegen und bewusst machen.

Man darf sich darum nicht der Illusion hingeben, als könne es künftig ein harmonisches  Verhältnis und eine harmonische Synthese von Kirche und Welt, Glaube und Kultur geben. Das hat es auch in der Vergangenheit nicht gegeben, und das kann es grundsätzlich nicht geben. Die evangeliumsfeindlichen Mächte werden sich auch in Zukunft melden und dem Evangelium energischen Widerstand entgegen setzen. Auch die neue Evangelisierung steht unter dem Zeichen des Kreuzes und kann nicht ohne Konflikte vonstatten gehen.

Dennoch will die neue Evangelisierung denen, die guten Willens sind,  einen Ausweg aus der verfahrenen Situation und einen Weg nach vorne  zeigen.  Sie will einen Weg zeigen zu einem neuen Humanismus und zu einer neuen Zivilisation des Lebens und der Liebe. Aus dieser Gesamtperspektive ergeben sich pastorale Prioritäten für die Zeit einer neuen Evangelisierung. 

IV. Pastorale Konkretionen

Sie dürfen im Folgenden kein vollständiges pastorales Programm erwarten. Ich kann nur einige mir wichtig erscheinende Gesichtspunkte hervorheben. Was ich vortragen möchte, ist nicht am Schreibtisch ausgedacht; es entspringt der Erfahrung von inzwischen mehr als fünfzig Jahren priesterlichem Dienst, darunter zehn Jahren pastoraler Erfahrung als Bischof einer großen Diözese, vielen Reisen in die so genannte dritte Welt, wo ich vielen Elendssituationen kennen gelernt habe, und der Erfahrung der letzten zehn Jahre in Rom mit wieder vielen Reisen in alle Welt, in denen ich mir nicht (wie manche meinen) als ökumenischer Diplomat sondern als Pfarrer in der weiten Welt vorkomme. 

1. Neu von Gott reden.

Die grundlegende und wichtigste Aufgabe der neuen Evangelisierung besteht darin,  neu von Gott reden und Gott ins Gespräch zu bringen. Das ist keine leichte Aufgabe; das ist überhaupt keine Aufgabe, die man sich einfach vornehmen und sie dann erledigen kann. Gott eines der am meisten missbrauchten Worte. Es ist das beladenste aller Menschenworte, keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Mit unserer Gottvergessenheit haben wir Europäer nicht nur unsere eigene Geschichte sondern die ganze Religions- und Kulturgeschichte der Menschheit gegen uns. Sie kennt das Phänomen des Heiligen, des ganz Anderen, das alle Möglichkeiten unseres Erkennens und Sprechens unendlich übersteigt und doch allgegenwärtig ist. Sie beschreibt es als mysterium tremendum fascinosum, als Furcht und Erfurcht einflössend und zugleich als anziehend und faszinierend (R. Otto). Die Alten wussten, dass das Staunen der Anfang des Denkens ist, so wie die Bibel wusste, dass die Gottesfurcht der Anfang der Weisheit ist  (Hiob 28,28; Ps 111,10;  Spr. 1,17; 9,10).

An diesem Punkt muß die Neuevangelisierung ansetzen. Ihr erstes Anliegen muß sein, was Karl Rahner Mystagogie genannt und als Leitidee der Pastoral bezeichnet hat. Mystagogie meint Geleit in das in aller Lebenserfahrung je schon waltende Geheimnis zu entdecken, um den Gott zu suchen, der nicht erst sozusagen von außen und zusätzlich zu unserem Leben hinzukommt sondern der je schon in unserem Leben gegenwärtig und der doch immer erst zukünftig ist. Es geht also um  die Hinführung zu einem Innerwerden und zu einem Gespür für „etwas“, das wunderbar, ehrfurchtgebietend und heilig ist, das letztlich unfassbar und unaussprechlich in und „hinter“ allem Fassbaren und Sagbaren waltet, das also mitten im Leben transzendent ist. So können wir eine Ahnung von dem zu vermitteln, was wir letztlich meinen, wenn wir „Gott“ sagen.

Die große christliche Theologie wusste immer, dass man über Gott nicht einfach Bescheid wissen kann, dass vielmehr bei allen unseren Begriffen, wendet man sie auf Gott an, bei aller Ähnlichkeit die Unähnlichkeit je größere ist (DS 806) und dass Gott ist bei allem, was wir über ihn sagen zu können meinen, je größer und je geheimnisvoller ist. Schon Tomas von Aquin sagte, dass wir über Gott mehr wissen, was es nicht ist als was er ist (S. th. I q.1 a.7 ad 1; a. 9 ad 3).

Das Wissen um die eigenen Grenzen ist die wahre Menschlichkeit des Menschen. Sie bewahrt ihn vor Hybris und Gigantomachie, vor dem Gotteswahn und davor, dass wir uns wie kleine Herrgötter aufspielen und dabei die Natur wie die Mitmenschen ehrfurchtslos behandeln und unterdrücken. Die Einsicht, nur ein Mensch und nicht Gott zu sein bewahrt uns auch davor, uns zu überfordern und uns zu übernehmen. Sie besagt, dass wir weder uns noch unser Leben „machen“ und es auch nicht leisten können, dass wir die Welt nicht retten können und das auch von keinem anderen verlangen dürfen.

In der geistlichen Tradition heißt diese Haltung Demut. Dieses Wort hat heute im allgemeinen keinen guten Klang, weil es nach Verdemütigung und Unterwürfigkeit klingt. Leider ist es in der Tat oft auch so missbraucht worden. Doch wirkliche Demut ist das, was

Frömmigkeit (eusebeia; pietas) ursprünglich meint, nämlich Ehrfurcht vor dem, was heilig ist. Wo nichts mehr heilig ist, da wird das Leben unerträglich distanzlos, da wird es brutal und auch fürchterlich banal. Demut dagegen anerkennt die Wahrheit wie die geschöpfliche Würde des Lebens. Teresa von Avila nannte die wahre Demut „Wandeln in der Wahrheit“. Dieser Wahrheit unserer eignen Existenz müssen wir wieder inne werden und neu lernen.

Christliche Verkündigung und Theologie kann es nicht beim Schweigen vor dem unergründlichen Geheimnis der Wirklichkeit der Welt und bei der Ahnung des Geheimnisses Gottes belassen. Der biblische Gott ist im Unterschied zu den stummen Götzen (Ps 115,4 f u.a.) ein sprechender und ein lebendiger Gott (Dtn 5,26; Mt 16,16 u. a.). Hier begegnen wir dem tiefsten Unterschied zu östlicher Religiosität, wie wir sie besonders im Buddhismus finden.

Der Schritt, der über das schweigende Innewerden des Geheimnisses unseres Lebens hinausführt, ist deshalb das vertrauend gläubige Wissen, dass da „einer“ ist, der „Ja“ zu mir sagt, dass ich nicht irgendein Zufallsprodukt und eine Laune des Schicksals bin, dass ich vielmehr  angesprochen, bei meinem Namen genannt und angenommen bin. Es ist die Gewissheit, dass da ein Gegenüber ist, zu dem ich rufen und schreien kann und  der dieses Rufen und schreien hört selbst dann wenn mir sonst niemand mehr zuhört,  dem ich dafür danken kann, dass ich bin und dass andere sind, den ich bewundern, loben und preisen kann.  

Dieses personale Verständnis Gottes erreicht seinen Höhepunkt bei Jesus selber. In der Mitte seines irdischen Lebens und im Zentrum seiner Botschaft steht sein ganz einmaliges, intimes persönliches Verhältnis zu dem, den er seinen Vater (abba) nannte (Mk 14,36). Als seine Jünger dieses sein Beten sahen, baten sie ihn: „Herr lehre uns beten“, und er lehrte sie beten „Unser Vater“ (Mt 6,9; Lk 12,30). Für Jesus ist es die freimachende frohe Botschaft, in diese personale Gemeinschaft und dieses Du-Sagen zu Gott hineingenommen werden, weil uns damit die Angst genommen wird, wir  nicht länger der Anonymität des Schicksals ausgeliefert sondern im Leben und Sterben in Gott geborgen sind.

Es ist darum die Grundaufgabe der neuen Evangelisierung sein, praktizierende Christen wie solche, die erst nach Gott fragen und suchen, dazu hinzuführen, dass sie den persönlichen Anruf Gottes in ihrem Gewissen vernehmen und dass sie darauf antworten und zu Gott „Abba, Vater“ sagen und „Vater unser“ sprechen können. Diese Antwort mag am Anfang schwer falle, nur stotternd möglich sein und erst langsam den Weg zu einem persönlichen Umgang mit Gott und zu einem persönlichen Beten finden. Wahrscheinlich gibt es viel mehr Menschen als wir denken, die uns ausgesprochen oder auch unaus-gesprochen, fragen und bitten: „Lehre uns beten!“ (Lk 11,1). Darum wird die neue Evangelisierung immer und vor allem Gebetsschule sein müssen.

2. Neu von Jesus Christus her anfangen.

Das Evangelium ist kein Programm zur Welt-verbesserung. Es ist das Evangelium Jesu Christi, auf dessen Antlitz uns das menschenfreundliche Antlitz des lebendigen Gottes aufleuchtet, des Gottes, der bis ans Kreuz geht und der auch und gerade in den dunkelsten Stunden mit uns und bei uns ist. Neuevangelisierung ist also Hinführung zu Jesus Christus und Einführung in die Freundschaft mit Jesus. Neue Evangelisierung heißt: Neu bei Jesus Christus beginnen, neu bei ihm in die Schule gehen um durch ihn Gott und den Menschen neu kennen zu lernen, ihn neu, besser und tiefer kennen und lieben lernen um uns neu für seine Nachfolge zu entscheiden.  Das ist für jeden Christen ein nie abgeschlossener sondern vielmehr ein lebenslanger Weg. Das Neue Testamen beschreibt das Christsein als ganzes als Weg, bzw. als neuen Weg (Apg 9,2; 19,9 u.a.). Diese Rückbesinnung auf den bleibenden Grund und die Mitte des christlichen Glaubens ist auch das Anliegen des Buches von Papst Benedikt XVI. „Jesus von Nazareth“.

Die Botschaft von Jesus Christus kommt nicht als etwas Fremdes von außen auf den Menschen zu; sie wird den Menschen nicht einfach übergestülpt. Er ist  der Logos, in dem alles geschaffen wurde, der Licht und Leben in allen Dingen, Licht das jeden Menschen erleuchtet, der in dieser Welt kommt. Er ist deshalb nicht als Fremder sondern in sein Eigentum gekommen (Joh 1,1-14). Er ist Licht der Welt, wer ihm nachfolgt wandelt nicht in der Finsternis sondern hat das Licht des Lebens (Joh 8,12). Die Botschaft von Jesus Christus muß deshalb ausgelegt werden als Deutung  des Lebens; sie ist Existenz-, Lebens- und Weltbedeutung.

Das ist keineswegs harmlos.  Das Johannesevangelium weiß um das unfassbare Paradox, dass die Menschen dieses Licht nicht annahmen (Joh 1,5.10 f) sondern die Finsternis mehr liebten als das Licht (Joh 3,19). Das Evangelium von Jesus Christus ist als eine befreiende Botschaft immer auch eine kritische Botschaft. Sie ist nicht ohne die Bereitschaft zur Umkehr und zum Umdenken zu verwirklichen. Davon zeugt die Botschaft aller Propheten wie die Botschaft Jesu. Das  Leben aller „großen“ Christen, die wir Heilige nennen, war ein Leben ständiger Umkehr. Davon zu reden kann die neue Evangelisierung nicht schweigen. Sie wird sagen müssen: Du musst dein Leben ändern.

Aus dem Gesagten ergibt sich als Priorität für die Neuevangelisierung: Christologische Konzentration. Es macht wenig Sinn und ist eher kontraproduktiv, mit Menschen, welche dem Glauben entfremdet sind oder Schwierigkeiten damit haben, über Jungfrauengeburt, Fegfeuer, Ablass und ähnliche ihnen fern liegende Themen zu diskutieren. Nicht dass dies nicht Inhalte des Glaubens wären, die an ihrer Stellen ihren legitimen Platz haben und die man darum nicht links liegen oder gar fallen lassen darf. Doch existentiell verständlich werden diese Wahrheiten nur, wenn man sie vom Fundament und Zentrum des Glaubens, d.h. von Jesus Christus her zu sehen vermag. Wir dürfen uns darum nicht in diesen Fragen verheddern sondern müssen zunächst die Grundlage und das Zentrum klären. Mit anderen Worten: Wir müssen uns an der „Hierarchie der Wahrheiten" (UR 11) orientieren.

Aus der christologischen Konzentration folgt ein pastoraler Paradigmenwechsel. In der nachtridentinischen Epoche lag die Priorität auf der flächendeckenden Sakramenten-versorgung. Die Sakramente sind Sakramente des Glaubens; sie setzen den Glauben voraus und dürfen nur gespendet werden, wenn ein wenigstens einschlussweiser Glaube gegeben ist. Das kann heute in vielen Fällen nicht vorausgesetzt werden. Viele kennen Jesus Christus nicht wirklich; sie haben zwar irgendwie von ihm gehört; sie kennen oder verkennen ihn vom Hörensagen, wissen das eine und oder andere von ihm, aber sie sind ihm und seiner Botschaft nie wirklich persönlich begegnet. Deshalb müssen wir uns fragen ob wir uns nicht oft  von Dietrich  Bonhoeffer den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass wir die Sakramente verschleudern, und sie zur billigen Gnade machen.

Der Eventcharakter außerordentlicher Missionspredigten wird normalerweise rasch verpuffen, wenn ihm nicht eine systematische katechetische Einführung vorausgeht oder nachfolgt. Jesus selbst hat seine Jünger  ähnlich wie die Rabbinen seiner Zeit in die Schule genommen. Seit  apostolischer Zeit gilt die Katechese als eine Grundverpflichtung besonders der Bischöfe und später der Pfarrer. Kirchenväter wie Augustinus, die große Theologen waren, und Theologen wie Thomas von Aquin waren sich dafür nicht zu schade Die Missionskirchen haben die Tradition der alten Kirche bewahrt und leiten daraus einen Gutteil ihres Missionserfolgs ab.

Doch wo geschieht bei uns Einführung in den Glauben und in das Leben aus dem Glauben?  Wo kann man bei uns den Glauben lernen? Zweifellos gibt es verdienstvolle und begrüßenswerte neue Initiativen für eine erneuerte lebendige Glaubensvermittlung. (Cursillo, Neokatechumenale Bewegung, Alpha-Kurse, Theo-logische Fernkurse u. a.), Doch leider laufen sie weithin neben den pfarreioffiziellen Formen der Katechese her.

Der Religionsunterricht, dem diese Aufgabe einmal zukam, kann diese Einführung unter den heutigen schulischen Bedingungen nicht mehr leisten, es sei denn er wird von einer intensiven Schulseelsorge begleitetet. Die Katechese kann nicht ein rein schulischer Lernvorgang sein; sie ist immer zugleich Einführung in das christliche und kirchliche Leben. Sie muß lebensnah sein, bei Erfahrungen ansetzen, Erfahrungen deuten und neue Erfahrungen vermitteln. Sie  verlangt mehr als Lehrmeister Lebemeister (Meister Eckehart). Das ist nur in räumlicher und personaler Nähe zur Kirche und zur Gemeinde möglich.

Zurecht hat man daher neben dem Religionsunterricht die Gemeindekatechese als Hinführung zur Erstkommunion und zur Firmung eingerichtet. Meist vertraut ,man sie wenig oder gar nicht ausgebildetem Person an. So leistet sie von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen im günstigeren Fall in einer Art Präevangelisierung, d.h. sie bleibt in einem religiösen Schnupperkurs stecken. Die grundlegende Taufkatechese (bei der Kindertaufe als Eltern- bzw. Familienkatechese) ist im allgemeinen nur minimal ausgebildet, ebenso die Erwachsenenkatechese, die heute für Taufscheinchristen, welche in reiferem Alter zu einem lebendigen Glauben zurückkehren wollen oder für Nichtgetaufte wichtig wäre, ist ebenfalls kaum ausgebildet. Man darf sich nicht wundern: Eine solche religiöse Mangelernährung kann nur einen schindsüchtigen Glauben hervorbringen. In der Tat ist das Glaubenswissen heute auf einem Tiefpunkt angelangt. Man muß von einem religiösen Analphabetismus sprechen. Aber man kann nur lieben, was man kennt, und was man liebt, das will man auch besser und tiefer kennen.

Was Not tut, ist ein ganzheitlicher, d.h. nicht nur kognitiver sondern auch emotional und praxisorientierter systematischer katechetischer Weg, der junge wie erwachsene Menschen mit Herz, Hand und Verstand hinführt zu Jesus Christus und sie einführt in den Glauben und in das Leben der Kirche, der ihnen hilft, mündige Christen zu sein, d.h. Christen, die den Mund aufmachen können und die zur Rechenschaft von ihrem  Glauben befähigt sind. Der Ausfall solcher Katechese ist eine der empfindlichsten Mangelerscheinungen der Kirche in Deutschland. Kein Wunder, daß viele, die sich für mündig halten, nur sattsam bekannte Schlagworte wiederholen und dabei  oberflächlicher Darstellung in den Medien aufsitzen oder der Propaganda neuer religiöser Bewegungen zum Opfer fallen. Wir müssen neu von der alten Kirche und den Missionskirchen wie auch von der  katechetischen Praxis in manchen anderen westlichen Ländern lernen.

3.  Eine neue Art Kirche zu sein.

Missionarische Gemeinden. Einführung in die Freundschaft mit Jesus Christus und Einführung in das Leben der Gemeinschaft der Kirche gehören zusammen. Die Kirche ist der Leib Christi; in ihr und durch sie ist Jesus Christus in der Geschichte und in der Welt bleibend gegenwärtig. Normalerweise wird die Kirche in der Gemeinde konkret erfahrbar. Gemeinden sind Kirche vor Ort, sie sind Lebenszellen der Kirche und sollten gleichsam ein Biotope des Glaubens sein. Gemeinden sind darum auch die Orte der Initiation in den Glauben. Dafür sind alle Gemeindeglieder durch Taufe und Firmung je in ihrer Weise verantwortlich. Missionarische Gemeindeerneuerung ist darum ein Gebot der Stunde.

Jeder weiß freilich um die aktuellen Gemeindeprobleme. Sie entstehen aus vielerlei Gründen. Der Priestermangel ist ein Grund, aber nicht der einzige. Es gibt auch Gründe, die im soziologischen Wandel liegen: in der Trennung von Wohnort, Arbeitsplatz und Lebensmilieu, in der Flexibilität der Gemeindemitglieder, aufgrund derer stabile Gemeinden alten Stils weithin kaum mehr existieren; dazu kommen die bekannten demographischen Gründe, die in Zukunft zu noch größerer Überalterung und zu einem weiteren zahlenmäßigen Schwund der Gemeinden führen werden. Die Bildung von Gemeinde- und Pfarrgemeinschaften bzw. Seelsorgeeinheiten war eine notwendige, aber  auch eine niemand wirklich befriedigende Maßnahme; sie kann nur eine Übergangslösung sein. Auf längere Sicht wird man vom Gießkannenprinzip einer alles mehr oder weniger beim Alten belassenden aber alles auch immer mehr ausdünnenden Form kirchlicher Präsenz Abstand nehmen und stattdessen zu einer Bündelung der Kräfte in Mittel-punktskirchen kommen müssen. In ihnen könnte man dann an Sonn- und Feiertagen statt eines reduzierten und ausgedünnten, ein volles kirchliches Leben erfahren.

Genau dies entspricht der missionarischen Methode des Völkerapostels Paulus; er predigte und wirkte in den damaligen Großstädten, von denen das Christentum dann ausstrahlte.  Das war auch der Weg der Erstmission bei uns; sie ging von Klöstern und von Stadtkirchen aus. In den Missionskirchen ist dieses „System“ der Mittelpunktskirchen bzw. der Missionsstationen bis heute weithin selbstverständlich. Für die neue Evangelisierung sehe ich keinen anderen Weg. Wir können es nicht bei einer Pfarreistruktur belassen, die im frühen oder hohen Mittelalter entstanden ist. Wenn wir wirklich missionarische Kirche heute und morgen sein wollen, dann stehen uns auf längere Sicht einschneidende Strukturreformen ins Haus.

Das kann nicht bedeuten, das gemeindliche Leben in Großzentren zu zentralisieren und das Umfeld pastoral und geistlich veröden und versteppen zu lassen. Der Glaube lebt von Tuchfühlung. Deshalb muß die Pfarrei eine Gemeinschaft von Gemeinschaften sein. Biblisch gesprochen bedarf es der Hauskirchen, heute: der kleinen Gemeinschaften bzw. der Basisgemeinschaften. In Lateinamerika und in Afrika hat man damit gute Erfahrungen gemacht. In diesen kleinen Gemeinschaften kann Glaubensgemeinschaft erfahren und eingeübt werden; von dort kann sie  missionarisch ins Umfeld ausstrahlen. Durch sie können  Menschen in der Kirche zu Hause sein oder neu nach Hause finden. Dabei kam schon bisher und kommt heute verstärkt den Frauen eine wichtige Aufgabe zu.

Ein zweites kommt hinzu. Der eine Herr Jesus Christus ist in jeder Gemeinde und Gemeinschaft gegenwärtig; darum kann sich keine Gemeinde und keine Gemeinschaft isolieren und verabsolutieren. Jede Gemeinde und jede Gemeinschaft ist Kirche nur als Glied der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Sie muß in Gemeinschaft mit der größeren Gemeinschaft der Kirche, konkret in Gemeinschaft mit dem Bischof stehen. Ein eigenbrötlerisches Gemeindechristentum aus der Kirchturmperspektive, die manchmal nicht über eine bloße Vereinsmeierei hinauskommt, sind weder auf der Höhe der Zeit noch einer heutigen Ekklesiologie der communio. Zumal in der gegenwärtigen missionarischen Situation bedarf es eines Christseins in Weltperspektive und im Weltformat,  eines Gemeindeseins in universaler weltkirchlicher und d.h. in katholischer Dimension.

Der missionarische Auftrag, mit dem das Evangelium schließt (Mk 1615 f; Mt 28,19 f; Lk 24,48 f; Apg 1,8), ist heute alles andere als erledigt; er ist in eine neue Phase eingetreten. Mission ist nicht mehr länger eine Nord-Süd- oder eine West-Ost-Bewegung; missionarische Grenzüberschreitung ist auch bei uns im Norden und Westen nötig. Sie ist also bei uns im Blick  auf Bereiche und Milieus, die dem Glauben entfremdet sind, nötig. Es geht heute um Mission in allen fünf Kontinenten.

Christsein und Kirche sind missionarisch oder sie werden nicht mehr sein. Wer nicht wächst, nimmt ab. Wer in der wachsenden Weltbevölkerung nicht zumindest mitwächst, wird zur Minderheit. Wer seinen Glauben liebt, der will davon auch Zeugnis geben und ihn anderen weitergeben und andere daran Anteil nehmen lassen. Mangelnde missionarischer Eifer ist mangelnder Glaubenseifer; umgekehrt wird der Glaube durch Weitergabe stark. Die selbstkritische Frage, die wir uns stellen müssen, ist freilich: Sind wir überhaupt daran interessiert, den Glauben weiterzugeben und Nichtchristen für den Glauben zu gewinnen? Ist uns die Mission wirklich ein Anliegen?

Frage: Wie halten wir es mit den Muslimen, die inzwischen in großer Zahl unter uns leben? Keine Frage, wir werden ihnen Respekt vor ihrer Religion entgegen bringen. Sie genießen bei uns Religionsfreiheit auch dann, wenn das in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung nicht der Fall ist. Wir suchen, sie zu integrieren. Wir wollen ihnen unseren Glauben nicht aufdrängen. Doch wenn wir vorschnell einknicken, dann ernten wir nicht Respekt sondern zu Recht Verachtung, weil wir signalisieren, dass uns der Glaube gar nicht so wichtig ist. Ich denke, wir müssen auch in dieser Hinsicht neu über unsere Verpflichtung zum christlichen Zeugnis nachdenken.

Schluß

Noch ein Wort zum Schluß. Es ist  mehr als ein Nachwort. Evangelisieren kann nur eine Kirche, die selbst evangelisiert ist, eine Kirche, die sich um geistliche innere und äußere Erneuerung bemüht. Den Glauben weitergeben kann nur, wer selbst im Glauben stark ist. „Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet“, so zitiert Paulus Ps 116,10 (2 Kor 4,13). Nur wenn unser Herz voll ist, kann unser Mund überfließen. Es geht also nicht darum, neue Organisationen und Institutionen aufzubauen, neue Planstellen einzurichten und dafür Haushaltsmittel freizustellen, Gremien und Symposien einzuberufen und öffentlichkeits-wirksame Aktionen zu veranstalten. Davon haben wir genug.

Der Missionsbefehl spricht von vom Hl. Geist erfüllten Zeugen (martyres) (Lk 24,48 f; Apg 1,8). Der Zeuge spricht vom Geist Gottes erfüllt nicht nur mit dem Mund sondern mit seiner ganzen Existenz, er riskiert dabei sogar seine irdische Existenz. Die neue Evangelisierung ist darum vor allem eine spirituelle Aufgabe und Herausforderung; sie ist eine Aufgabe von heiligmäßigen Christen. Liberale Rezepturen sind kontraproduktiv.

Die Vision von einer evangelisierenden Kirche, von der wir ausgegangen sind, muß in unseren Herzen Wurzel schlagen. An Pfingsten hat diese neue Wirklichkeit begonnen und mit der Rede des Petrus hat ein Verstehen über alle kulturellen und sprachlichen Grenzen hinweg eingesetzt. Wir müssen erneut pfingstliches Feuer und pfingstliche Begeisterung fangen. Wenn wir erst einmal Feuer gefangen haben, dann wird sich dieses wie ein Buschfeuer fast von selbst unaufhaltsam ausbreiten. Dann wird wahr, was Paulus sagt: „Das Wort Gottes läuft“ (2 Thess 3,1). Die neue Evangelisierung Europas fängt mit einem erneuerten Pfingsten an; sie fängt bei uns selber an.